Andreas Kümmert sucht seine Balance

Anders als die anderen

Andreas Kümmert sang „Live & akustisch“ im ausverkauften franz.K

Wer halbwegs popmusikinteressierten Menschen den Namen Andreas Kümmert nennt, hat sofort eine Debatte am Hals. Darf jemand, der beim Vorentscheid zum »Eurovision Song Contest« antritt und gewinnt, zurückziehen und das Finale verweigern, wie Kümmert es 2015 tat? Klare Mehrheitsmeinung: Geht gar nicht. Der Anstand, die Regeln, was man den Fans schuldig ist und so weiter. Ist das so? Gehört jemand, der A gesagt hat, ab sofort der Musikindustrie und ihren Regeln?

Um diese Härte aufzuweichen, hilft es, sich in Kümmert hineinzuversetzen. Er ringe mit Angststörungen und Depressionen, hat er öffentlich gemacht, er sei nun in Therapie. Vermutlich fehlt ihm auch jener seelische Ostfriesennerz, mit dem sich andere Promis professionell gegen wohlfeile Gemeinheiten schützen. Wer einem Andreas Kümmert auf Facebook den Tod wünscht, kann sich daran aufgeilen, Macht zu haben und wirklich etwas auszulösen – eine Absage beim Song Contest beispielsweise.

Zum Glück ist der etwas zauselige, unangepasste Andreas Kümmert ohne Musik nicht denkbar. Für seine aktuelle „Live & akustisch“-Tour buchte der 29-Jährige kleine Konzertsäle, in denen er sich wohler fühlt. Wie am Freitag im Reutlinger franz.K. Es war ausverkauft, rund 400 Kümmert-Jünger kamen, hunderte weitere Tickets wären mühelos noch weggegangen laut Veranstalter. Ein paar Leute verstehen ihn also doch, den Andreas Kümmert.

Vielleicht verstehen sie ja auch einfach was von Musik. Denn so viel Musikalität wird bei der himmlischen Talentvergabe tatsächlich nur selten einem einzelnen Menschen zuteil. Gitarre und Klavier spielen, gute Texte schreiben, das fällt ihm spürbar in den Schoß. Vor allem aber singt er mit einer Stimme, die eine wahre Röhre ist und doch im richtigen Moment zart wird, die einen enormen Umfang und endlos Kraft hat. In der so viel Emotion und Echtes liegt, wie man es für Geld nur selten hören darf. Er wird mit Joe Cocker verglichen – womit man eher Kümmert als Cocker unrecht tut.

Kümmert wurde bekannt als späterer Sieger bei „The Voice of Germany“ 2013. Da sang er Musik anderer Stars. Seinen Castingshow-Türöffner, Elton Johns „Rocketman“, stimmte er auch am Freitag nochmal an, aber erst in den Zugaben. Davor setzte er eigene musikalische Schwerpunkte als Songwriter mit deutlicher Blues-Note. Nachwehen der stromlinienförmigen Casting-Vermarktungs-Phase sind im Repertoire noch zu spüren, aber sie werden weniger. Kümmert wird immer mehr zu Kümmert.

Auf die Bühne hat Kümmert den Pianisten Sebastian Bach (heißt wirklich so) mitgebracht. Die beiden sind eingeschworen, verschworen. Sie setzen auf Werkstatt-Atmosphäre, stimmen stetig Instrumente, korrigieren den Toningenieur und witzeln ein bisschen („wir sind eigentlich ne Punkrockband“). Daneben überrascht es fast, wie professionell das Bühnenbild ist, raumfüllend von hinten eine Bar, seitlich Zigaretten- und Spielautomat. Aber klug: Die Kulissen machen die Bühne gleich nochmal kleiner und gemütlicher.

Kurz nach zehn geht das Konzert schon zu Ende, trotz einer langen Pause. Das ist vielleicht das einzige, was den stehend klatschenden Fans nicht so gefällt. Sie jubeln trotzdem weiter, wohl wissend, dass ein Andreas Kümmert in 90 Minuten mehr gibt als andere in Jahren.

Veröffentlicht wurde der Text im Reutlinger General-Anzeiger vom 4. April 2016 (Paywall).