Eine Zeit zum Erinnern
Der rote Bäbber prangt inzwischen auf all seinen Büchern: „SPIEGEL Bestseller-Autor“. Das hätte man am Samstag im Hirsch nicht direkt vermutet: Knapp 20 Gäste saßen da, um dem 71-jährigen Schriftsteller zu lauschen. Er las aus seinem neuesten Roman „Einer fehlt.“ Heiser, hustend, gegen seinen Hustenreiz Rotwein trinkend. Für die, die ihm zuhörten bis Seite 42, war es trotzdem eine schöne Stunde.
42 Seiten von „Einer fehlt“. Eine Strecke, auf der sich der Vorhang erst öffnete. Zwei Männer brechen auf, weil der dritte Freund verschwunden ist nach dem Tod seiner Frau. Erst suchen sie ihn zuhause, dann reisen sie durch Italien und Frankreich. Eine Tour, die auch Zeitreise ist durch gemeinsame Erinnerungen an Straßenmusik, Wein, Pecorino.
In einer frühen Szene, einer Rückblende, treffen sich zwei Internatsschüler auf einer Waldlichtung. Der eine, Georg, füttert eine streunende Katze mit Wurst, die er beim Essen geklaut hat. Der andere, Paul, wird immer vor allem Beobachter sein. Er ist Georg heimlich gefolgt. Die beiden tauschen spröde Worte, während die Katze ihre Angst vor Paul überwindet, weiter frisst, sich putzt, streckt, putzt. Wie Thommie Bayer kätzische Bewegungsabläufe einfängt, sagt eigentlich schon alles über ihn als Mensch und Autor.
Wer Bayer liest, glaubt ihn zu kennen. In jedem seiner Bücher steckt er selbst, spürbar. Auch diesmal. Bayer selbst ist Schriftsteller, Maler und Musiker: So steht’s bei Wikipedia. Im Buch hat er seine drei Berufe auf die drei Freunde verteilt, mit der Abweichung, dass Paul Lektor war und nicht selbst schrieb. Er macht drei grundverschiedene Typen lebendig, die nacheinander alle mit derselben Frau zusammen sind. Im echten Leben hat Bayer sie am Ende abbekommen.
Selbstverwöhnung beim Schreiben
Und ja, Bayers Hauptfiguren sind meist etwa so alt wie er selbst, das bejaht er auch in der Gesprächsrunde. Er lässt seine Bücher und Gedanken auch an seine eigenen Sehnsuchtsorte reisen. „Selbstverwöhnung beim Schreiben“ nennt er das. Vielleicht spürt man deswegen so viel. Das war ja schon Anfang der 1990er so. Sein erster Buch-Erfolg spielte in Tübingen, wo Bayer einst zur Schule gegangen war. „Das Herz ist eine miese Gegend“ dreht sich um eine Clique deutlich jüngerer Menschen. Und war fast schon Pop-Literatur.
Gutes Stichwort: Viele von Bayers Büchern haben einen Soundtrack. Seine Helden haben Musik im Kopf, legen CDs ein, suchen Zuflucht in Klängen, lassen sich tragen. Was in den frühen 90ern mit einem Spaziergang zum Plattenladen verbunden gewesen wäre, lässt sich heute problemlos erledigen, während man liest: einfach anklicken, was Bayers Protagonisten grad so hören. Klavierkonzerte von Beethoven waren auf den ersten 42 Seiten bereits dabei, „So long Marianne“ und drei Liedermacherinnen.
Das passt nicht supergut zusammen
Am Ende der Lese- und Fragerunde war Bayers angeschlagene Stimme nahezu weg. Er verabschiedete sich, um eine rauchen zu gehen. In der Szene mit der Katze auf der Lichtung hatte der eine junge Held zum anderen gesagt, während man sich Kippen und Zippo zuwarf: „Asthma und Rauchen passen übrigens nicht supergut zusammen.“ Und dann wurde geraucht.
Veröffentlicht wurde der Text am 27. Oktober 2024 auf Reutlinger General-Anzeiger (Paywall) und am 29. Oktober in der Print-Ausgabe.