Endlich Freigang für bunte Synthetik!
Dieter Thomas Kuhn und seine Kapelle spielten Open Air in Bietigheim-Bissingen vor 15.000 Verzückten
„Ja klar! Ihr seid auch hier!“ Es wurde geherzt und gedrückt, Polyester an Nylon, Blümchenkleid an Blumenshirt, schon Stunden, bevor Dieter Thomas Kuhn und seine Kapelle die Bietigheimer Bühne betraten. Das Viadukt, die spektakuläre Bahnbrücke über die Enz, ist Kulisse einer schönen Open-Air-Location. Am Samstagabend war sie ausverkauft: 15.000 bunte Gäste. So mancher Lokführer bremste und hupte droben, während drunten vergnügte Sonnenblumen waberten.
Seit drei Jahrzehnten tourt der Tübinger Kuhn mit seinen Mannen und einem gut aufgewärmten Schlager-Repertoire durch die Lande. „Das Festival der Liebe“ heißt der diesjährige Aufguss stimmigerweise, denn eigentlich wollen ja alle immer nur das Eine – dass es ist wie immer. Mit viel Liebe, dankeschööön.
Mit dem Kauf eines Tickets sichern sich Fans einen Abend der Seligkeit. Endlich wieder heile Siebziger-Welt, endlich Freigang für die sorgsam zusammengeshoppte schrille Synthetik! Fürs Hemd mit dem eingenähten Brusthaar, für grasgrüne Teddy-Latzhosen mit aufmontierten Blümchen, Schlaghosen, Perücken, Stirnbänder, Sonnenbumen-Sonnenbrillen und psychedelische Jumpsuits. Mal ironisch, mal inbrünstig. Wer so viel zu zeigen hat, lässt sich das nicht nehmen. Nicht von über 30 Grad am Samstagabend, bei denen enge Synthethik-Teile zur Herausforderung für Schweißdrüsen und Geruchssinne werden. Auch nicht davon, dass parallel irgend so ein Fußballspiel war.
Kurz nach acht spazierte er herein, der Zeremonienmeister der Synthetikfeier. Gute zweieinhalb Stunden lang feuerte die immergrüne Kapelle einen Klassiker nach dem anderen ab. „Griechischer Wein“ war gleich am Anfang dabei, „Tränen lügen nicht“ und „Ti Amo“ erst bei den Zugaben. Dazwischen allerhand Glücksauslöser für die feiernde Blümchengesellschaft: „Eine neue Liebe“, „Über den Wolken“, „Es war Sommer“ „Wunder gibt es immer wieder“. Und ja, während man dies liest oder tippt, muss man summen. Ein paar neue Oldies-Goldies waren auch dabei, sie schmiegten sich nahtlos mit ein: „Hello again“, „Vielen Dank für die Blumen“ und, mit Tiefe und Pyrotechnik, „Merci, Chérie“.
Der Ort, wo Schwaben ihrem Singdrang nachgeben
Schlagerklassiker sind offenbar das Pendant zu Weihnachtsliedern. Im Winter singt man Strophe eins mit, im Sommer den Refrain. Hauptsache, endlich mal gesungen! Das Singen beseelte auch Bietigheim ganz wunderbar, bis in die schütteren Reihen hinten. Bei „Über den Wolken“ ließ Kuhn seine Gäste einfach mal machen.
Das Deutschland-Spiel bei der EM am selben Abend war nicht zu verleugnen. Schwarz-rot-goldener Fan-Chichi mixte sich am Samstag vorurteilslos mit der Blümeligkeit. Ab 21 Uhr sah man manchen Herrn mit handywärts gesenktem Kopf, auch rudelweise. Die Band hatte sich extra den Refrain „Er steht im Tor“ draufgeschafft, um Kick-Zwischenstände sofort stilvoll verkünden zu können. Das klappte kurz nach neun gleich prima, auch wenn das Tor dann doch nicht galt.
Wer braucht schon Perfektion
Ein unwilliges Instrument reicht, um eine derart gut geölte Musik-Maschine stolpern zu lassen: Beim „Tag, als Conny Kramer starb“ kam der Song erst beim dritten Anlauf in Gang. Kuhns Moderationen gehören dazu, auch wenn Deutschland 2024 nicht noch einen „man darf ja nicht mehr alles sagen“-Sager gebraucht hätte. Und dass Kuhns Stimme bei allem Schmelz live nicht zu den intonationsschärfsten gehört, weiß man eh. Stört doch keinen!
Die Leute sind viel zu beschäftigt damit, glücklich zu sein. Andere in der Bier-Schlange vorzulassen, einander abgefallene Stoffblümchen aufzuheben, Fremden Komplimente fürs Outfit zu machen, Seifenblasen hinterherzuschauen.
So friedlich, so glücklich erlebt man Menschen selten. Höchste Zeit, dass geblümte Synthethikklamotten auch für den Rest des Jahres legalisiert werden!
Veröffentlicht wurde der Text am 1. Juli 2024 im Reutlinger General-Anzeiger (Paywall).