James Blunt und seine Zwänge

Muss er? Er muss.

James Blunt darf endlich wieder unter die Leute. Es war ihm ein Fest – am Freitagabend in Stuttgart vor über 8000 Fans

Das Schicksal teilen ja viele, die davon leben, Lieder zu schreiben und sie anderen Leuten vorzusingen: Es gibt da dieses eine Lied. Das Lied, ohne das es offenbar partout nicht geht. James Blunt gehört zu denen, die es besonders hart trifft mit seinem Lied. Sein erster Hit war vor 17 Jahren das rückgratarm dahingeschluchzte, schmalz- und glukosesiruptriefende „You’re beautiful“, von dem sehr viele Menschen augenblicklich Krämpfe bekommen, aber eben nicht alle.

Während er am Freitagabend in Stuttgart vor einer gut gefüllten Schleyerhalle just dieses Stück leicht verdrossen anmoderiert, grübelt man: Muss er es denn singen? Er ist doch hier der Boss! Aber dann singen sie mit, all die zahlenden Gäste, voll Inbrunst bis zum Grölen, und man erinnert sich an die Gesetze des Marktes. Jupp. Er muss tatsächlich.

Ansonsten hat sich der 48-Jährige inzwischen gut freigeschwommen. In der Vergangenheit hatte man ihn bei Konzerten in alberner Astronauten-Kluft aus Glitzerfolie gesehen oder vor pastellfarbenem Yoga-Wellness-Aloe-Vera-Ambiente, was seine Bemühungen, sich vom Kitsch freizuschwimmen, arg torpedierte. Darüber den Mantel des Schweigens. Heute steht er da in Jeans und Shirt und kommt auf den Punkt.

Was ihm auch Neider und Schmäher lassen sollten: Er ist einer der versiertesten Songwriter seiner Generation mit gutem Händchen für Ohrwürmer. Einer, der in Konzerten stets Studio-Qualität abliefert. Und live erstaunlicherweise Stimmfarben hat, die (zumindest außerhalb seines notorischen Falsetts) männlicher und angenehmer sind als alles, was er mit seinen Alben zu Gehör bringt.

„The Stars beneath my Feet“ heißt das aktuelle. Es bündelt Greatest Hits mit einigem Neuen. Die Tour dazu ersetzt zu Teilen auch die Tour zum 2019er-Album „Once upon a Mind“, die wegen Corona 2020 abgebrochen wurde. Diese Geschichte erzählt Blunt gern und oft, als Gast in „The Voice of Germany“ ebenso wie bei Interviews und nun auf Bühnen: wie furchtbar das Daheimsitzen doch war mit der Schwiegermutter, die heute angeblich im Garten verscharrt ist, und seinen Kindern, deren Namen er nun kenne. Britischer Humor funktioniert halt. Worüber er in Stuttgart mal nicht sprach, was sich aber nachzulesen lohnt: die Ansichten des ehemaligen Offiziers zum Krieg.

Für die jetzige Tour mischt er Musik aller Alben und hat vier Top-Instrumentalisten dabei, die auch den Backgroundgesang beeindruckend liefern. Das kernige Kerlchen Blunt spurtet mit und ohne Gitarre längs und quer, singt inbrünstig und tonsicher wie eh und je, Klavier kann er auch. Warum er einige Songs live langsamer nimmt als im Studio, weiß der Himmel – bringt zusätzliches Pathos, das hätt’s vielleicht nicht gebraucht.

Der Abend wird chilliger und rockiger und gipfelt tanzbar in „Stay the night“, „OK“ und „Bonfire Heart“. Die Halle feiert (soweit das Maske tragende Fans können, die alle brav an ihren Plätzen bleiben).

Aber apropos „er muss“. Muss der Mann eigentlich nach jedem vierten Lied „Schtuttgaaaard“ in den Saal brüllen, so als Beziehungspflege zwischen Bühne und Zahlvolk? Offenbar glaubt er, er müsse auch das. Aber man wird ja älter und muss immer weniger. Beim nächsten Mal dann!

Veröffentlicht wurde der Text am 4. April 2022 im Reutlinger General-Anzeiger (nur Print).

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