Lieder wie Glasfiguren
Alin Coen zauberte auf der Waldbühne des Sudhauses mit zarter Musik und entwaffnender Ehrlichkeit
Es war ein Abend, der einem das Glücklichsein schon ziemlich nahe legte: Die letzte Sonne überm Wald, die Waldbühne des Sudhauses idyllischer denn je und dazu lächelnde Menschen, die sich spürbar auf Live-Musik freuten. Besondere Musik. Songwriterin Alin Coen ist bekannt für tiefe, emotionale Texte. Sie brachte nur Bassist und Schlagzeuger mit – und ein enormes Schlafdefizit, wie sie gleich erzählte.
„Nah“ heißt das aktuelle Album von Alin Coen. Sie hat es Mitte 2020 veröffentlicht, nach sieben Jahren Pause. In denen sie ein anderes Leben ausprobiert, ein Kind bekommen und doch wieder zur Musik gefunden hat.
Schrankenloser denn je lotet sie in ihren deutschen Texten aus, was zwischen Menschen passiert: Liebe, Vielleichtliebe und Nichtmehrliebe. Schönheit, Scheitern, Sehnen. „Irgendwas scheint wohl gerade an der Schwerkraft verstellt, weil sie mich stärker als sonst nach unten zieht und dort hält“, grübelt sie fast flüsternd. Um dann, mit perlender Musik, hinterherzuschieben: „Du sehnst dich nach der Leichtigkeit, die wir am Anfang hatten. Für dich war ich einst dein Sonnenschein – jetzt fällt dir auf, ich werf auch Schatten.“ Der Himmel ist noch da, aber er leuchtet nicht mehr blau.
Alin Coen wechselt zwischen Gitarre und Piano. Singt mit einer Stimme, die man immer wiedererkennen würde. Die ist reich und glatt und traumwandlerisch, kann strahlen und auch brechen – wie passend. Es sind Songs wie Glasfiguren. Coens Musik ist zart, stark, nuancenreich und komplex, intelligent und zugleich intuitiv. So vieles zugleich für Kopf und Herz. Auch die zwei Begleiter sind ein Träumchen, Bassist Philipp Martin und Schlagzeuger Fabian Stevens.
Dieses Musikglück mag man sich gar nicht trüben lassen. Erwähnen muss man es trotzdem: So richtig rund gelaufen ist es am Freitag nicht. Vielleicht der vorab erwähnte Schlafmangel? Kleine Verspieler oder Texthänger – geschenkt. Aber einen Song in der falschen Tonart beginnen, das erst auf halbem Weg bemerken und unterbrechen? Einen anderen stockend starten und dann gar nicht zu Ende bringen? „Neulich konnte ich ihn noch“, sagte Alin Coen da und sprang zu einem anderen Titel. Ihre Ehrlichkeit war entwaffnend. Fürs Zuhören wäre es schöner gewesen, die kleinen emotionalen Reisen dieser Songs ungestört genießen zu können, ohne plötzliche Strömungsabrisse.
Wenn Alin Coen aufhört zu singen, ist es, als wäre ein Lagerfeuer erloschen. Plötzlich wird einem kühl. Man hätte gern noch zugehört, doch nach gut eineinhalb Stunden war das Repertoire erschöpft: „Wir können keinen einzigen weiteren Song“, wieder so eine typische Alin-Cohn-Moderation. Der Abendhimmel über der Waldbühne leuchtete noch ein bisschen weiter.
Veröffentlicht wurde der Text am 20. Juli 2021 im Reutlinger General-Anzeiger (nur Print).