Nicht ganz gerecht
Mehr von allem: Sängerin Pink überflutete über 40.000 Gäste in Stuttgart mit ihren Talenten
Ach, die Welt ist nicht gerecht. Der Mittwochabend hat es final bewiesen. Zwei Stunden lang wirbelte die US-Rocksängerin Pink über die Bühne des Stuttgarter Stadions, danach war endgültig klar: Es geht wahrhaftig nicht fair zu.
Manche sehen nett aus. Manche können schön singen. Manche sind gut im Turnen. Manche sind sehr lieb. Manche können sich teure Kleider kaufen. Manche haben die Haare schön. Der liebe Gott hat all das gerecht verteilt – haben zumindest viele Generationen von Müttern behauptet. Von wegen. Totaler Quatsch. Pink hat alles. Und von allem viel mehr.
Durchs Stadion segeln
Sie singt makellos Welthits, während sie an Bändern und gigantischen Kronleuchtern rumfliegt. Ihre Luftnummern macht sie allein oder akrobatisch verschlungen in ihre Partner, hoch über der funkelnden Bühne, von Kameras verfolgt. Am Schluss segelt sie an Seilen längs übers komplette Stadion. Gut 40.000 Menschen unter ihr wissen nicht mehr, ob man den Atem anhalten oder jubeln soll – beides! Natürlich intoniert sie auch kopfüber astrein und kraftvoll. Hinterher strubbelt sie sich grinsend durch die zehn Zentimeter aufgestellten blonden Punkhaare. War was?
Das ist musikalisch auf dem Punkt und zugleich sportlich spektakulär. Cirque du soleil plus Rockkonzert, zwei Events in einem. Und mehr.
Wie kleine Musicals
Sie hat eine Tanztruppe um sich versammelt, die lässig daherkommt und erstklassig abliefert. Sie selbst ist eh ein Derwisch, der offenbar nie außer Atem kommt. In der ersten Hälfte wird jedes Stück einzeln inszeniert wie ein kleines Musical. Feuerwerk und Flammenstöße Sie zieht sich neunmal um, mal cool, mal edel, mal hauteng glitzernd. Also: massive Materialschlacht, perfekt choreografiert. Wenn man grad überlegt, ob einem das alles zu viel, zu professionell ist, ändert sie die Gangart und liefert einen Block mit akustischen, fast intimen Stücken, darunter der neue Song „90 Days“ im Duett mit Wrabel. Dann ein Cover von Cindy Laupers Hit „Time after time“, genüsslich vieltausendfach mitgesungen. Das ist Bombast und Party. Und bevor es flach wird, große Gefühle. Einfach mehr von allem.
Frauen stark machen
Die 39-jährige zweifache Mutter ist, wie man weiß, die sympathische Schimpfwort-Benutzerin von nebenan. Gut geerdet. Mehr noch: eine Ikone und Vorkämpferin. Man weiß, dass sie Frauen liebte vor ihrem heutigen Ehemann, sie macht sich stark für die Rechte homosexueller Menschen. Sie spricht offen über Fehlgeburten. Ermutigt ihre Tochter und zugleich alle Frauen, sich selbst schön zu finden, bloß nicht anzupassen. Stellt ganz bewusst eine von Frauen dominierte Band auf die Konzertbühne. Und sie legt sich mit Präsident Trump an. Im Konzert zeigt sie sich nahbar, bekommt einen roten Marienkäfer-Kinderrucksack geschenkt und trägt ihn einen Song lang überm Designer-Kostüm. Signiert später die Flanke einer Frau, die sich daraus ein Tattoo stechen lassen will. Oh, und sie ist Unicef-Botschafterin und sammelt Spenden für Kinder weltweit. Geht denn noch mehr?
Einfach genießen
Wenn man Pink ist, muss man seine Hits nicht mit Bedacht übers Konzert verteilen, sondern schöpft aus dem Vollen. „Get the Party started“, „Beautiful Trauma“, „Just Like a Pill“, „Try“, „Just Give Me a Reason“, „What about us“, „F**kin‘ Perfect“, „Raise your Glass“. Seit 2003 landen ihre Alben stets auf Platz 1 oder 2 der Charts, so manches haben Radiosender arg abgenudelt. Live kommt es bunt und knallig und wird gefeiert. Mehr Spaß geht nicht!
In diesem Meer an Mehr könnte man erneut Grübeln kommen: Ist so viel nicht irgendwann auch zu viel? Saublöde Frage. Was würde ein Kind sagen, dem man Schokolade und Eis und Kekse und Gummibärchen gibt? Oh, wie ungerecht, ich geb das wieder her? Wohl kaum. Am besten einfach genießen.
Veröffentlicht wurde der Text am 12. Juli 2019 in der Schwäbischen Zeitung sowie im Reutlinger General-Anzeiger (Paywall).