Revolution fürs Ballet

Eine Revolution fürs Ballett

Die Pfullingerin Sophia Lindner hat einen Spitzentanz-Schuh entwickelt, der Tänzer nicht mehr quält

Professionelle Ballett-Tänzer gibt es nicht so viele, man kennt sich. Die meisten Profi-Tänzer hierzulande kennen inzwischen auch eine junge Frau, die in Pfullingen aufgewachsen ist: Denn Sophia Lindner hat eine völlig neue Art an Ballettschuhen entwickelt. Darauf hat die Ballett-Welt offenbar lange gewartet.

Die 24-jährige Sophia Lindner hat in Pforzheim Industriedesign studiert. Die Ballettschuhe sind ihre Abschlussarbeit – ihre eigene Erfindung, für die sie auch ein Patent angemeldet hat. Sie bekam für diese Ballettschuhe bereits Preise, bevor die Bachelor-Arbeit eingereicht war. 2018 hat sie das Studium abgeschlossen, ein Gewerbe angemeldet und arbeitet seither emsig daran, mit ihrem Start-Up die neuen Ballettschuhe in Serie herstellen und auf den Markt bringen zu können. Vormerkungen und Bestellungen sammeln sich bereits bei ihr.

Ballett ist für Sophia Lindner eine vertraute Welt. Sie hat selbst ebenfalls Ballett getanzt, insgesamt 14 Jahre lang bei Sybille Rutsch bei DanceArt in Pfullingen. Begonnen hatte sie bereits im Kindergartenalter und trainierte emsig weiter, während sie das Friedrich-Schiller-Gymnasium besuchte und dort Abi machte. Wöchentliches Balletttraining stand weiterhin in ihrem Terminkalender, als sie zur Vorbereitung ihres Industrial-Design-Studiums als Praktikantin arbeitete, erst in der Metallverarbeitung bei Elring Klinger, danach bei der Reutlinger Agentur Create 3D. Mit diesen Praxiserfahrungen erfüllte sie die Voraussetzungen für ihr Traum-Studium, legte eine gute Mappe mit eigenen künstlerischen Arbeiten vor und schaffte schließlich die Aufnahme an der renommierten Pforzheimer Designer-Hochschule.

Mit dem Beginn des Studiums hängte sie ihre eigenen Ballettschuhe dann an den Nagel. Nur um sie wieder in die Hand zu nehmen, als man begann, sich persönliche Bachelor-Projekte zu suchen. Plötzlich waren die alten Ballettschuhe eine echte Herausforderung für die angehende Industriedesignerin. „In unserem Beruf wird man von einer Idee angetrieben: Das muss doch besser gehen! Wie können wir bessere Lösungen schaffen? Wir wollen Lösungen, die den Menschen mehr Lebensqualität ermöglichen als das, was es bisher gab.“

Mehr Lebensqualität, das haben Ballett-Tänzerinnen und -Tänzer tatsächlich dringend nötig. Denn die traditionsreichen Ballettschuhe, die seit Jahrhunderten fast unverändert aus Leinen, Leim und Leder hergestellt werden, sind eigentlich ziemliche Folterinstrumente für Füße und Menschen. In den so genannten Pointe Shoes holen sich Tänzerinnen und Tänzer während ihrer ästhetisch aussehenden Arbeit blutende Füße, Verletzungen und gesundheitliche Probleme. „Viele Profis müssen schon mit dreißig ihren Beruf aufgeben“, weiß Lindner.

Das ist noch nicht alles: Die alten Schuhe verschleißen sehr schnell. Ein Profi zertanzt bei einem Auftritt mindestens ein Paar Schuhe alter Bauweise, vielleicht sogar eines pro Akt eines, bei einem dreiaktigen Stück also drei Paar am Abend. Das geht ins Geld und ist ineffizient. „Eigentlich unfassbar, dass sich da so lange nichts geändert hat“, sagt Lindner. Obgleich sich gerade bei Sportschuhen und ihrer Materialien während der letzten Jahrzehnte so viel getan hat. Was davon könnte man in die Ballettwelt mitnehmen? Sophia Lindner fand an der Hochschule sofort viel Unterstützung für ihre Idee und trieb ihr Projekt voran.

Sophia Lindners erster Ansatzpunkt: die Sohle. Die ist beim traditionellen Tanzschuh sehr hart. Das hilft, den Fuß beim Tanz mit weniger Kraftaufwand zu halten. Zugleich ist die zu feste Sohle aber auch eine zusätzliche Belastung für die Muskulatur. Weder eine normale Abrollbewegung des Fußes noch ein gesundes Gangbild sind möglich. Diese Brandsohle bekommt schnell Risse, ihr Material ermüdet. Dann fehlt die Stabilität fürs Stehen auf der Spitze. Eigentlich bräuchten Ballettschuhe also einerseits mehr Stabilität und andererseits mehr Flexibilität. Diesen Konflikt hat Sophia Lindner gelöst: Ihre Sohle ist durch Einkerbungen unterteilt. Bei allen Abroll-Bewegungen sind die Füße frei beweglich, beim Spitzenstand hingegen, wenn sich die Sohle in die andere Richtung wölbt, schließen sich die Segmente und blockieren – die gewünschte Stütze fürs Stehen auf der Spitze.

„Bisher mussten sich im Ballett die Füße an die Schuhe anpassen. Ich will, dass der Schuh sich an die Füße anpasst“, beschreibt Lindner ihre Grundidee. Sie nannte den Schuh und ihr Projekt deswegen „React“: Der Schuh soll derjenige sein, der auf den Fuß reagiert.

An zwei weiteren Stellen hat sie für ihre Entwicklung ganz neue Wege eingeschlagen: In den Strumpf von „React“ werden Strukturen eingestrickt, die Tape-Bändern nachempfunden sind, wie man sie aus der Sportmedizin kennt. Diese Strukturen sollen die Muskeln entlang des Beins stimulieren, dadurch wirken sie stabilisierend und stützend. Hinzu kommt die Zehenbox, die für jeden Fuß individuell angepasst werden soll. Bei den bisherigen Schuhen lastet das gesamte Körpergewicht im Spitzenschuh auf den Zehen, der längste Zeh trägt die größte Last. „Mit unserer individuellen Zehenbox verteilen wir die Druckbelastung gleichmäßig auf alle Zehen.“

Sophia Lindners Ideen haben schon viel Aufmerksamkeit erregt. Sie bekam im Herbst 2018 für ihre Bachelor-Thesis den Förderpreis der Heinrich-Blanc-Stiftung. Zuvor kam sie deutschlandweit auf Platz 2 des James Dyson Award 2017, das ist ein internationaler Design-Preis. Und an ihrer Hochschule Pforzheim erhielt sie 2017 den Research Excellence Award.

Das liegt sicher auch daran, wie gut sie ihr Projekt durchdacht und fachlich aufgestellt hat. Grundlagenforschung, Experimente, regelmäßige Tests mit Berufstänzern, Zusammenarbeit mit dem Dozenten für Tanzmedizin der John Cranko Schule in Stuttgart, Besuch bei einem Schuhmacher, Materialrecherche, Gestaltungsideen, Visualisierung, Entwicklung des Prototyps in vielen Anläufen, Patent anmelden, den internationalen Kongress der Tanzmedizin besuchen: Das waren die Schritte im Studium.

Seither drehen sich ihre Tage darum, Unternehmerin zu werden und die gute Idee in Serie zu bringen. Sie hat Fördergelder aufgetan, sich Beratung und Unterstützung gesucht, Finanzplan und Businessplan geschrieben, in der Reutlingerin Heidi Braun eine Geschäftspartnerin gefunden, mit Lieferanten und Herstellern verhandelt. Im Jahr 2020 soll die neue Generation der Ballett-Schuhe den Tänzerinnen und Tänzern das Leben leichter machen. Bis dahin hat Sophia Lindner noch viel zu tun.

Veröffentlicht wurde der Text am 5. Januar 2019 im Reutlinger General-Anzeiger (Paywall).

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