Die multiple Christine Prayon

Die tausend Gesichter der Christine P.

Wer Christine Prayon nur als Birte Schneider aus der heute-show kennt, hat was verpasst

Die beliebte Schauspielerin und Kabarettistin Christine Prayon ist tot. Sie starb am Mittwoch in Reutlingen. Während ihres Auftritts im mit rund 200 Gästen gut besuchten franz.K hörte ihr Herz völlig überraschend auf zu schlagen. Todesursache war ein erschnorrtes Rachengold-Bonbon. Während das Publikum noch grübelte, ob man in so einem Moment laut lachen darf oder gar muss, gab Prayon auf der Bühne schon wieder kräftig Gas. Irgendeine ihrer multiplen Persönlichkeiten, irgendeine geht ja immer.

Ja, der zweite Teil des Abends war speziell. Alles, was dafür sorgen könnte, dass Leute in der Pause gehen, spiele sie erst nach der Pause, hatte Prayon sich selbst und ihr seit neun Jahren fröhlich vor sich hin mutierendes Bühnenprogramm „Die Diplom-Animatöse“ anmoderiert. Vielversprechend. Die 44-jährige Wahl-Stuttgarterin hat viel mehr Gesichter als nur die Birte Schneider in der heute-show.

Redundanzenreigen

Für die erste Hälfte versprach sie eine Einschleimphase. Sie werde das Schönste aus ihren gesammelten Werken vorlesen. Im Mittelpunkt: der Scarlett-Schlözmann-Zyklus, unter dessen Dach narzisstische Teenagerliebe ebenso gut aufgehoben ist wie Ablösungskämpfe einer 48-Jährigen, die bei ihren Eltern wohnt. Als die Ex-Pornodarstellerin Schlözmann Geld braucht, schreibt sie einen „frechen Frauenroman“. Was als rustikaler Redundanzen-Reigen begann, verstieg sich zur ideologischen Debatte. „Emanzipation ist schlimmer als Kommunismus. Sie gefährdet die bestehende Ordnung. Wie Unkraut bei der Bundesgartenschau oder Tripper im Vatikan.“ Das mündete ins Name-Dropping. Luther, Marx, Shakespeare, Stalin, Hitler und Gerhard Schröder, ein bisschen Bildung muss an so einem Abend schon sein. Die brave Prayon im megabraven Kleidchen verabschiedete sich zur Pause.

Demontagepersiflage

Und kam zurück als Dragqueen, ach was, als Cross-Dragqueen. Was Wommy Wonder rituell am Ende eines Auftritts tut, damit begann Prayons faszinierender, verstörender zweiter Teil: mit einem Abschmink-Ritual zur Melodie von „My way“, einer Dekonstruktion, die Prayon kunstvoll überhöhte zur Demontagepersiflage. Nachdem das brachiale Make-Up vom Gesicht gewischt war, fiel die Robe und enthüllte einen Männerkörper in Feinripp. Dem Prayon prompt das Brusthaar-Toupet nahm und auch die Beule aus der Unterhose popelte – die entpuppte sich als rote Clownsnase. Also eine Frau? Eine Clownin? Als Prayon fertig war, fehlte auch noch ein Auge und das Gebiss. Allein diese Sequenz würde man gern fünfmal sehen, um alle mitschwingenden Ebenen mitdenken zu können. Keine Zeit. Auge wieder rein, Bonbon erbetteln, furchtbar husten, dramatisch sterben. Äh? Wow.

Katzenputzsequenz

Danach amortisierte Prayon ihre Schauspiel-Ausbildung ziemlich optimal. Sie outete sich als multiple Persönlichkeit, trauerte um sich selbst und trat böse nach, spielte Wettervorhersage und Werbeblock ein, ging ab und kam zurück, putzte sich wie eine Katze, balzte als italienischer Casanova-Barista und brachte Mario Barth „pass auf pass auf“ überprononciert zur Strecke. Auch diesen Teil hätte man gern in Zeitlupe gesehen, um all die Kunst, die Ideen, die Klugheit, die Seitenhiebe, das Feuer und die gesellschaftspolitische Relevanz zu würdigen. Vorbei, zu spät. Am Ende blieb eine zentrale Frage offen: Heißt es die oder das Nutella?

Veröffentlicht wurde der Text am 30. November 2018 im Reutlinger General-Anzeiger (Paywall).

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