Groenemeyer will weiter mitmischen

Eine Energieeinheit namens Grönemeyer

Mit seinem 15. Album „Tumult“ ist der Sänger auf Tournee und sorgte in Stuttgart für Mitsing-Ekstase

„Was macht der Mann denn bloß mit seinen Händen?“ Auch 2019 gibt es offenbar noch Menschen, die zum allerersten Mal ein Grönemeyer-Konzert besuchen – die müssen sich an das drollige Gefuchtel und Getrippel von Bühnenderwisch Herbert erst gewöhnen. Die restlichen 12.500 Fans am Samstag in der Stuttgarter Schleyerhalle zeigten mehr Routine. Sie steigerten sich textsicher hinein in die gröni-typischen, alle Fischerchöre toppenden Sing-Ekstasen.

Schwappendes Glück
Dieses überschwappende Wir-Gefühl ab Minute eins ist das eigentliche Phänomen von Grönemeyer-Konzerten, seit Jahrzehnten. Und unverändert: Auch diesmal herrschte kollektive Glückseligkeit. Der Glücks-Gastgeber wird 63, außerdem nochmal Vater, hat mit „Tumult“ ein von der Kritik erfreut begrüßtes Album vorgelegt (es ist sein 15.) und bereist derzeit die großen Hallen. Wo er sich nicht lumpen lässt: Am Samstag verließ er die Bühne nach zweidreiviertel Stunden und drei Zugabe-Blöcken. Standing Ovations.

Hampelige Motorik

Um es gleich klarzustellen: Nein, er singt objektiv betrachtet immer noch nicht besser. Er artikuliert auch nicht verständlicher. Für seine hampelige Motorik gibt es nach wie vor keine adäquate Beschreibung. Sein Publikum feiert das. Marketing-Experten würden wohl von einer gelungenen Markenbildung sprechen.

Hymnisches Manifest

Grönemeyer lässt es nicht ausklingen. Andere Musiker im Vorrentenalter basteln am eigenen Denkmal oder an der Altersvorsorge. Grönemeyer will mitmischen, aufrütteln, Akteur bleiben. „Tumult“ gilt als sein Manifest gegen den Rechtsruck der Gesellschaft. „Wir haben die Hände frei / Gegen Augenwischerei / Gemeinsam sind wir frech“, singt er im gutgelaunt perlenden „Taufrisch“. Als Rock-Hymne klingt es so: „Bist du da, wenn zu viel Gestern droht? Wenn wir verrohen, weil alte Geister kreisen? Bist du da?“

Klare Haltung

In „Fall der Fälle“ textet er: „Es bräunt die Wut“ und „Es ist die Angst, die glaubt / Sauber muss es sein“ – es gipfelt im großen Chor: „Kein Millimeter nach rechts“. Wer Grönemeyer kennt, weiß: Die klare Haltung gegen Rechts ist eingebaut, zeigte sich stetig, beispielweise 1993 in „Die Härte“. Ja – und Liebeslieder? Schreibt er natürlich auch noch. Und legt weiterhin mehr Herz und Tiefe rein, als andere je preisgeben werden. Das eine oder andere Solo am Klavier sorgte im Konzert für unzählbare Quadratmeter Gänsehaut.

Kollektive Lüge

Wer Herz gibt, kriegt Herz. Das wurde am Samstag mehr als deutlich. Kaum sang Grönemeyer die erste Zeile und stakste zwei Hoppelschritte, schon wurde geliebt wie wild. Würde Liebe leuchten, die Halle wäre taghell gewesen. Da kann er eigentlich tun und singen, was er will. Er ging dennoch keine Risiken ein, mixte Neues und Altes mit Bedacht. Nach der Single „Sekundenglück“ und einem Paket mit knackig politischem Stoff war schon Hymnenzeit. „Bochum, ich komm aus dir“ ist und bleibt eine der schönsten Kollektivlügen des Pop-Business. Und als Nachschlag gleich ein Klassiker-Medley: „Männer“, „Was soll das“, „Vollmond“, dezent aufgemotzt, mit Druck und Tempo.

Dankbares Wuseln

So viel musikalische Zeitreise gen Jugend sorgte für Party vor und auf der Bühne. Die mitgealterten Herren der Band sind weitgehend dieselben, die bereits in den 80ern von Plattenhüllen grinsten. Sie ließen sich ebenso wenig lumpen wie ihr Chef, der wie eh und je zwischen Laufsteg und Seitenbühnen hin und her wuselte, als wolle er jedem Fan einzeln fürs Kommen danken.

Exzessive Experimente

Alte Hits wurden auf neue Pfade geschickt. „Mensch“ hatte allen Schlendrian verloren, und „Flugzeuge im Bauch“ wurde verjazzt, dass es eine wahre Pracht war, samt Kontrabass und Stimmband-Akrobatik. Man muss ja nicht immer alle mitsingen lassen. Auch das ist Grönemeyer: entspannt Bestseller sezieren und beim Plaudern wahlweise über seinen Tanzstil oder seinen Körper spötteln.

Dosiertes Gedöns

Allzu viel Show und Gedöns brauchte es da gar nicht mehr. Wobei: Es gab auffällig schönes Licht, für jeden Song neu gedacht. Plus schlichte, ästhetische Inszenierungen auf den Videowänden hinter der Band. Der Sound war so gut, wie die Schleyerhalle es eben zulässt.

Praktische Physik

Aber nun zurück zur Frage. Was der Mann da vorn mit seinen Händen macht, ist doch völlig eindeutig: überschüssige Energie abführen. Das funktioniert wie eine Art umgekehrter Blitzableiter. Aus dem Herbert raus – und schwupps, rein ins Publikum. Den ganzen Abend fuchtelte und dirigierte er, den ganzen Abend floss und strömte es. Der Duracell-Hase war gestern. Es wird Zeit, in der Physik nicht nur James Watt und James Prescott Joule zu huldigen, sondern auch eine Ehren-Energieeinheit namens Grönemeyer einzuführen. Kurz: ein Ö.

Veröffentlicht wurde der Text am 18. März 2019 in der Schwäbischen Zeitung und im Reutlinger General-Anzeiger (Paywall).

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