Alice Schwarzer liest vor

Übers politisch Korrekte hinaus

Mit Alice Schwarzer unterwegs in Algerien

Eine Grande Dame der deutschen Frauenbewegung ist sie zweifellos, inzwischen 75 Jahre alt, und ihre Themen werden weicher: Alice Schwarzer hat ein Buch veröffentlicht über ihre Freundschaft zur Großfamilie einer algerischen Journalistin. „Meine algerische Familie“ heißt es. Und wer sich an der politischen Korrektheit dieses Possessivpronomens aufhalten mag, der hätte am Donnerstag in Tübingen noch manchen Grund zum Grollen gefunden. Wäre aber Außenseiter geblieben: Die über 250 Zuhörenden im Museum, fast alles Frauen, begegneten Schwarzer als einer langjährigen Wegbegleiterin, spürbar freundschaftlich-entspannt.

Alice Schwarzers Lesung lädt wie das Buch ein zu einer Reise ins Algerien des Jahres 2018. Alles geht zurück aufs Jahr 1989, als Schwarzer bei einem journalistischen Seminar ihre algerische Kollegin Djamila Seddiki kennenlernte. Sie freundeten sich an, und als die liberale Journalistin Seddiki im Algerien der 1990er-Jahre bedroht war, „habe ich sie für fünf Jahre nach Deutschland geholt“. Die Großfamilie Seddikis kam zu Besuch, die Beziehungen Schwarzers zur gesamten Familie wurden enger. Seither unterhält sie sich regelmäßig mit drei Generationen. Und hat dadurch eine ganz besondere Lupe gefunden, um Algerien zu betrachten.

Im Buch sammelt sie Beobachtungen über die Geschlechter-Trennung bei Festen, amüsante Anekdoten und Gespräche über Zwangsheirat. Sie erzählt vom Schwatz am Küchentisch, von wohlerzogenen Kindern, Moschee-Neubauten und dem Ausblick aufs Meer. Sie bietet kompakte Infos über nordafrikanische Geschichte sowie viele Mosaiksteine über den Zustand dieses Landes, das sie als mehrfach traumatisiert erlebt. Sie macht spürbar, wie gerade junge Frauen in Spannungsverhältnissen leben: „Bei Besuchen im Ausland zieht sie die kürzesten Röcke und die höchsten Absätze an“, doch daheim würden inzwischen 90 Prozent der Studentinnen Kopftuch tragen.

Alice Schwarzer weiß viel und hat eine ausgeprägte Meinung – das war auch am Donnerstag deutlich. Sie warnte vor falscher Toleranz. „Mir geht es um den Missbrauch des Islam als politische Strategie“, sagte sie. „Wir müssen paktieren mit den aufgeklärten Muslimen.“ Und wie sie mit den unfrei lebenden Frauen umgehe, denen sie begegne? „Es ist nie meine Art gewesen, Menschen zu belehren. Ich gehe nicht her und hebe den Zeigefinger. Ich bin Aufklärerin.“ Außerdem sei sie für ihr Buch als Reporterin unterwegs gewesen, und da verfälsche man prinzipiell nicht die Situation, die man beschreibt. Der Applaus für Alice Schwarzer war lange und herzlich.

Veröffentlich wurde der Text am 10. November 2018 im Reutlinger General-Anzeiger (Paywall)

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