Poetry Slam direkt aus Kreuzberg
Die Ursuppe, aus der das Känguru stammt
Marc-Uwe Kling und seine Lesebühne »Lesedüne« waren zu Gast im Stuttgarter Theaterhaus
»Kennst du das Känguru? Das Känguru von Marc-Uwe Kling? Nein? Oh, dann schick ich dir mal einen Link für Youtube.« So ungefähr muss es gelaufen sein, als aus dem Berliner Kleinkünstler Marc-Uwe Kling plötzlich einer wurde, der in ganz Deutschland geliebt wird. In zwei Büchern beschreibt er sein WG-Leben mit einem sprechenden, kommunistischen Känguru, das am liebsten Schnapspralinen isst und nie den Müll runterbringt. Band drei ist in Vorbereitung, Amazon sammelt bereits Bestellungen für März 2014. Känguru-Lesungen sind ausverkauft. 2012 bekam Kling den deutschen Kleinkunstpreis und 2013 den deutschen Hörbuchpreis.
Die Ursuppe, in der dieses Känguru entstehen konnte, ist die Berliner Poetry-Slam-Szene. Schon 2004 hat Kling mit Freunden die „Lesedüne“ gegründet, eine Lesebühne, deren Mitglieder sich bis heute alle 14 Tage in einem Club treffen, um abwechselnd neue, selbstgeschriebene Texte vorzulesen.
Inzwischen hat die „Lesedüne“ ein Buch veröffentlicht und geht gelegentlich auf Reisen. Dann versucht Kling zusammen mit Julius Fischer, Sebastian Lehmann und Maik Martschinkowsky, die Berliner Club-Atmosphäre in größere Säle am anderen Ende der Republik mitzunehmen, so wie am Samstagabend ins Stuttgarter Theaterhaus. Damit das Ganze auch im braven Schwaben ein bissle urbaner wird, fingen die vier erst um 21.30 Uhr an mit ihrem „post-ironischen Team-Performance-Live-Literatur-Event“.
„Marc-Uwe ist ja berühmt“, hieß es am Samstag immer wieder, und so ironisch ist das eigentlich gar nicht, denn ohne ihn wären sie vermutlich immer noch in Kreuzberg. Umso erstaunlicher, wie auffällig unauffällig der Star des Abends war. „Tut mir leid“, murmelte der 31-Jährige den Kollegen zu, als er das größte Stück vom Begrüßungsapplaus abbekam. Ab dann überließ er ihnen die Bühne weitgehend, was sich gelohnt hat.
Fischer sinnierte über Kaminfeuer-DVDs und deren Bedeutung für Menschen, die keine Vorhänge haben und Sex haben wollen, ohne dabei Exhibitionisten zu sein. Lehmann arbeitete sich an den stumpfsten Popsongs der 1990er-Jahre ab, deren Google-übersetzten Texten er den Rest gab. Martschinkowsky hatte eine Flugzeug-Borddurchsage für den Kapitalismus geschrieben: „Unser Wirtschaftssystem verfügt über verschiedene Ausgänge. Diese liegen am oberen und unteren Ende des Systems.“ Kling streute dezent ein paar neue Geschichten vom Känguru ein, erwartungsgemäß gut bis tränenlachbar.
Am besten waren die Vier bei ihren wenigen Auftritten als Quartett – einer Schredderung von Politiker-Floskeln oder auch einem kurzen Streifzug durch die Geschichte der Menschheit, bei dem von der ersten Zellteilung an alles als „Copy and Paste“-Prozess interpretiert wurde, Kreuzigung, Nationalsozialismus, Mauerfall. Zwischendurch bekamen Veganer, Biokisten-Kunden, Mütter und die anwesenden Kollegen ihr Fett ab. Sowas gefällt auch Schwaben, erst gegen Mitternacht ebbte der Applaus langsam ab.
Veröffentlicht wurde der Text im Reutlinger General-Anzeiger vom 10. September 2013 (Paywall).